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Rechnen und rechnen lassen - die programmierten Zeichnungen von Günter Schulz

Vom Alter her gehört Günter Schulz fast noch zur ersten Generation der computernutzenden Künstler. Doch erst nach einem langen künstlerischen Weg über Zeichnungen, Tuschemalerei, experimentelle Fotografie, Zeichentrickfilm, plastische Objektmontage und elektronisch gesteuerte Lichtobjekte entdeckte er vor acht Jahren, als die Personal- und Homecomputer langsam erschwinglich wurden und den Markt eroberten, den Computer als künstlerisches Ausdrucksmittel.

Inhaltlich blieb der Medienwechsel weitgehend ohne Bedeutung, nach wie vor ging es Schulz um ästhetische Problemstellungen wie: Zeicheninformation versus -abstraktion oder um Farbe und Kommunikation. Von Anfang an arbeitete er an programmierter Grafik. Seine Programme generierten Bildelemente, führten geometrische Transformationen aus, manipulierten Bitplanes, stanzten und collagierten Formen und Figuren und fügten sie zu Bildern zusammen. Ein allgemeines Problem dieser Gestaltungsweise ist, dass Programme eine Seinsform von Bildern darstellen, welche der antizipierenden Vorstellung kaum zugänglich sind. Hinzu kommt, dass sich nicht alle bildnerischen Probleme mit vertretbarem Aufwand per Programm lösen lassen. Die Nachbearbeitung der generierten Bitmapdateien mit Paint programmen ist deshalb oft 'der einfachste Weg, Korrekturen in Bildern anzubringen. Als in den letzten Jahren zunehmend brauchbare und preisgünstige Mal- und Bildbearbeitungsprogram­me verfügbar wurden, integrierte Schulz diese Möglichkeiten konsequenterweise in seine künstlerische Gestaltung. Seine mit Rechnern herge­stellten Arbeiten sind also inzwischen komplexe Verknüpfungen und Kombinationen von programmierter und programmunterstützter Gestaltung.

Hinter Skizzen wie „Kafka: Eine kaiserliche Botschaft l" (Abb. 2) steckt eine mathematische Funktion, deren Koordinatenwerte als x/y Zahlenpaare direkt Punkt für Punkt auf dem Monitor präsentiert oder auf Papier ausgeplottet werden. Der Computer generiert eine knotige, wie hinge­kritzelt wirkende Figur. Die Schwünge - es handelt sich um programmierte Bezier-Kurven - laufen um ein diffuses Zentrum. Für „Kafka: Eine Kaiserliche Botschaft II" (Abb. 3) benutzt er Funktionen, die in die Länge gezogene, lineare, schriftähnliche Duktus erzeugen. Diese beiden Funktionsabbildungen verband Schulz zu einem Bild „Kafka: Eine kaiserliche Botschaft III" (Abb. 4), welches die ästhetischen Spannungen zwischen zentrischen und linearen Bewegungen in gekonnter Weise präsentiert und zu einer kompositorischen Einheit verbindet. Diese Arbeit stellt eine extreme Position innerhalb seines künstlerischen Spektrums dar. Die Bildgegenstände sind Funktionsabbildungen, und die Gestaltung reduziert sich auf das Übereinanderkopieren.

Frühe Arbeiten von Manfred Mohr oder von Roland Fuchshuber kommen einem in den Sinn. Fuchshuber überlagerte in Arbeiten wie „Tport 371" oder „TRAN 7" von 1969/70 im wesentlichen Schwingungen mit verschiedenen Amplituden und Frequenzen. Doch obwohl es sich bei Ab­bildung 4 auch um reine Funktionsabbildungen handelt, zeigt sich in diesem Bild ein für Schulz charakteristisches und allgemein weiterweisen­des Element seiner Arbeit. Die Funktionsabbildun- gen werden elementarer Bestandteil für Gestal­tung und sind nicht schon für sich genommen das künstlerische Endergebnis.

Eine Arbeit aus der Mappe „Kafka digital 3" mit dem Titel „Die kleine Hoffnung" (Abb. 5) zeigt deutlich die Verlagerung von der reinen Funktionsabbildung hin zur künstlerischen Gestaltung mit und durch Funktionen. Ein sogenannter Funk tionsplotter zeichnet mit einem „outline Pinsel" eine chaotische Schwingung. Die entstandene Figur wurde in ein stilisiertes Fensterkreuz gesetzt. Durch den Bildkontext bekommt die mathematische Funktion einen bildsemantischen Charakter. Günter Schulz sieht die visuelle Korrelation und nutzt sie. Er generiert keinen Blumenstrauß, sondern findet ihn - allerdings mit dem Computer. Obwohl er, wie dieses Bild exemplarisch zeigt, mit den ästhetischen Dimensionen und dem Abbildcharakter von Funktionen experimentiert, unter­nimmt er nicht den Versuch, etwas Vorgestelltes oder Sichtbares zu konstruieren. Dadurch erfolgt eine Abgrenzung gegenüber einer gängigen Richtung von Computergrafik, deren Ziel es ist, visuelle Realität quasi fotografisch durch geometri­sche Funktionen zu beschreiben und vom Rechner generieren zu lassen. Schulz geht es weder um die visualisierte Geometrie als Selbstzweck, noch um die konstruierte Abbildung des Sichtbaren. Stattdessen gestaltet er mathematische Funktionen und nimmt die generierten Strukturen und Bildelemente als Material für seine Bildkompositionen.

Wenn Günter Schulz sich mit gegenstandslosen, einfachen geometrischen Symbolen oderTextu ren beschäftigt und sie faltet, verwringt, verbiegt und kopiert, bewegt er sich in einem Spannungsfeld zwischen logischem Programm und bildhafter Darstellung. Unwillkürlich assoziiert man bei Arbeiten wie „Gestörte Ordnung" (Abb. 1) und „Move" (Abb. 6) zerknülltes Papier oder zerknautschten Stoff. Doch obwohl hier sogar so etwas die Naturalismus sichtbar wird, besteht die Absicht gerade nicht darin, zerknüllte Gegen­stände geometrisch zu erfassen und darzustellen. Vielmehr wird die Funktion des Faltens Gegenstand der Gestaltung, ohne dabei selbst Gestaltungszweck zu sein.

Ein Vergleich zu historischen Vorläufern konkretisiert, was die Bildgestaltung mit dem Computer bei Günter Schulz hervorhebt. Leslie Mezeis „Transformation of a girls face" von Ende der sechziger Jahre ist vom Prinzip her ähnlich angelegt wie die eben genannten Arbeiten. Doch wo Mezei offensichtlich die programmierte Koordinatentransformation als grafischen Effekt demonstrierte, nutzt Schulz diese Transformationsmöglichkeiten, um künstlerisch Bilder zu gestalten.

Eine umfangreiche Werkgruppe bilden Figuren, die ausgehend von einfachen generierten Grundstrukturen, auf Symmetrien, also auf Spiegelungen, Klappungen und Drehungen einfacher Grundformen basieren. Zu diesen allgemeinen geometrischen Gestaltungsautomaten kommen rechnertypische Verfahren wie konturenorientiertes Füllen von Umrissformen mit Texturen, mit Mustern und mit Farbverläufen hinzu. Die Anwendung dieser Prozeduren auf einfache Grafikelemente wie Freihandlinie, Kurve und Bogenstück führen rasch zu komplexen Formen- und Flächengestaltungen.

Bei „Puppenstarre" (Abb. 7) ist die Entwicklung der Figur aus einer Umrisslinie noch deutlich nachvollziehbar. In der Mitte des Bildes steht eine Figur, die sich - abgesehen von einigen absichtlich eingebauten Störungen - achsensymmetrisch zur Mittensenkrechten verhält. Eine variierte elliptische Funktion zeichnete die Figur mehrmals und erzeugte so eine fette schwarze Linie, die zur Mitte hin durch Überlagerungen und Verknüpfungen teilweise wieder ausgelöscht wurde. Durch die Spiegelung um die Mittenachse wirkt die an sich amorphe Linie figural, wie ein lauerndes Insekt. Diese einfache geometrische Funktion vervielfacht die ästhetische Information. Doch Günter Schulz nimmt die Zuspitzung zum Figura tiven wieder zurück, indem er die entstandene Figur in zwei verschiedenen Größen jeweils im Wechsel einmal oben und unten, achssymmetrisch rechts und links neben die Ausgangsfigur stanzt. Durch diese zweite, komplexere Symmetrie entsteht eine interessante Spannung zwischen dem flächig ornamentalen Charakter der Gesamtkomposition und den gegenständlichen Anklängen der Einzelfiguren. An diesem Beispiel wird sichtbar, wie Schulz mit den Übergängen zwischen geometrischer Abstraktion und figurati ver Konkretion tief im Inneren unseres visuellen Kommunikationsrepertoires spielt.

Auf diese Weise erzeugt Schulz eine Unzahl figürlicher Formen, die er einzeln oder zu Gruppen zusammengestellt ins Bild setzt. Mit Füllfunktionen wird den Liniengewirren Plastizität verliehen, wodurch die skurrilen Wesen noch leibhaftiger wirken. Mit wenigen Kopieroperationen und Spiegelungen entstand aus einigen Kreisbögen eine Momentaufnahme einer wilden Choreogra­phie bizarrer Wesen wie „Der Chimärenreigen" (Abb. 9). Erweitert wurde dieses Gestaltungsverfahren durch ein Verzerren der Symmetrieachsen, wie es exemplarisch bei „Kafka: Die Gehilfen", „Drei Männer im Schnee" oder „Der Geist des Samurei" (Abb. 11, 12, 15) zu sehen ist. Diese kaum noch nachvollziehbaren komplizierten geometrischen Beziehungen zu den Ausgangsformen ergaben Figuren mit einer surrealen Fremdheit, denen man den programmierten Ursprung kaum noch anmerkt.

Automatische Kunst mit dem Rechenknecht betreibt Günter Schulz mit seinen Labyrinthen und flächigen Texturkompositionen. Die Labyrinthe (Abb. 13, 14) sind aus einem „Alphabet" einfacher rechteckiger Formen mit Hilfe rekursiver Programmroutinen generiert. Mit diesen Bildern knüpft er an eine Bildtradition an, die schon aus der ersten Phase der Computerkunst bekannt ist. Mathematiker wie Michael A. Noll und Frieder Nake berechneten aus einfachen geometrischen Grundformen wie Linie, Quadrat etc. unter Verwendung von Zufallsgeneratoren und Strukturformeln der generativen Ästhetik gegenstandslose Grafik. Diesen Weg verfolgte Schulz weiter, indem er die Komplexität der Ausgangszeichen und der Bildungsgesetze erhöhte, um dadurch vielfältigere Bildstrukturen zu erzeugen. Auch hier zeigt sich gegenüber den Vorläufern eine deutliche Abkehr vom geometrischen Phänomen und damit einhergehend ein wesentlich stärker auf komposi torische Qualität bedachtes Gestaltungskonzept.

Die „Fassaden" und „Partituren" (Abb. 16- 19) sind ebenfalls rechnergenerierte Kompositionen. Als dominante Gestaltungselemente treten hier vielfältige Füllmuster in den Vordergrund. Noch wesentlicher als das veränderte Gestaltrepertoire ist der damit verbundene Wechsel des Kompositionsprinzips. Bei den Labyrinthen ging es um die Verteilung und Anordnung feststehender Bild­elemente. Hier werden nun die Eigenheiten der Füllalgorithmen das bestimmende Bildungsgesetz. Ein schon bekanntes Grundelement, das fensterähnliche Rechteck, taucht hier wieder auf. Als Ausgangsbildstruktur wird dieses Bildzeichen variiert und in die Fläche gestreut. In die dadurch entstehenden Formen hinein füllt das Programm - konkret determiniert oder über Zufallskoordinaten - diverse Muster. Bei diesem Verfahren werden die vor dem Füllen vorhandenen Konturen unter bestimmten Bedingungen zerstört. Die Kontur ist für die Füllfunktion nicht mehr vorhanden, wenn beispielsweise eine schwarze Umran­dung mit schwarzer Farbe gefüllt wird. Die nächste Füllfunktion, die in dieses Feld hineinzeichnet, überschreibt dann den mit der Fläche verschmolzenen Rand oder läuft sogar, wenn entsprechende gleichfarbige Bildstrukturen vorhanden sind, über diesen hinaus bis an die nächste Farbgrenze. In diese funktionale aber kaum antizipierbare Stringenz werden dann wieder Störungen eingebaut, die dem Ganzen das endgültige komposito­rische Gefüge geben.

Fraktale - genauer graphtale - Formeln sind ein neues Interessengebiet von Günter Schulz. Noch sind es abstrakte Knäuel und deren aufgelöste lineare Strukturen, die über die Bildfläche geplottet werden. Diese Studien (Abb. 19,20) haben noch nicht die kompositorische Dichte seiner vorhergehenden Arbeiten, man darf also ge­spannt sein, was die Weiterarbeit in diesem Gebiet hervorbringen wird. Denn Günter Schulz hat mit seinen mathematischen Experimenten, dem Jonglieren und Spielen mit Parametern und Variablen den Raum experimenteller Geometrie bislang immer wieder verlassen. Seine Kreativität richtete und richtet sich auf die Symbole, Zeichen und Formen. Das Interesse ist bildnerisch, das Werkzeug für die Ausführung ist programmierte Geometrie und computerunterstützte Zeichnung.

Wenn Günter Schulz mit Funktionen und Programmvariationen experimentiert, ist das Visuali sierte nicht einfach eine präsentierte Formelgrafie, sondern künstlerisch angewandte Geometrie. Die Gestaltung mit Programmen zielt dabei nicht auf die populäre, naturalistische Abbildung von Gegebenem. Die simplifizierende Verdopplung der visuell wahrnehmbaren Welt in zwei-, drei- oder vierdimensionale Rechnerwelten ist nicht sein Thema. Und das nicht etwa, weil ihm das techni­sche Gerät nicht zugänglich ist, sondern weil es - wie gezeigt wurde - seiner bildnerischen Inten tion diametral entgegensteht.

Bildnerisch bewegt sich Günter Schulz in einem Spektrum zwischen geometrischer Abstraktion und figurativer Archaik. Seine Figuren erinnern an Baumeister oder Dubuffet. Der Einfluss dieser beiden Künstler, der in seinen früheren maleri­schen und plastischen Arbeiten noch klarer als bei den hier gezeigten vorscheint, ist unverkennbar. Mit seinen geometrischen Arbeiten und auch mit seinem methodischen Vorgehen befindet sich Schulz aber auch in einer Traditionslinie, die bis zu den Anfängen der Computergrafik und Computerkunst zurückreicht. Die zwischen ihm und den Anfängen der Gattung liegenden zwanzig Jahre zeichnen sich allerdings unübersehbar ab. Schulz geht es an keiner Stelle mehr um die Demonstra tion computergrafischer Algorithmen oder um den Beweis der künstlerischen Nutzungsmöglichkeit des Computers, sondern um nichts anders als um das künstlerische Gestalten selbst - auch mit dem Computer.

Gerd Struwe

 

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