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Bitte anfassen - Aspekte interaktiver Computerkunst      
(Aus: Katalog Computerkunst ‘94)      
 

Die Computerkunst orientierte sich bis zu Beginn der 90er Jahre stark an Kunstformen wie Tafelbild, Zeichentrickfilm, Experimentalfilm und Videoskulptur. Seit einigen Jahren zeigen computergesteuerte interaktive Objekte und Environments einen neuen Trend in der Computerkunst. Diese Entwicklung wurde möglich, weil Computersysteme Maschinen sind, die sehr komplexe Interaktionen zulassen. Jede Computerbedienung, natürlich auch die von Künstlern, ist eine Interaktion des Nutzers mit dem System. Bei der Herstellung computerunterstützter Kunst ist die Interaktion also selbstverständlich, die Präsentation der Bild- oder Filmwerke dagegen wurde weitgehend traditionell als Print, Foto und Video realisiert. Daß man mit diesen Darbietungsformen nur begrenzt die im Rechner gestalteten Informationen zeigen kann, wird allerdings erst deutlich, wenn man die Ästhetik digitaler Informationen genauer untersucht. Im Rechner können ästhetische Gebilde in dreidimensionaler Form vorhanden sein. In Programmen können diese Formen sogar als unzählbare Variationsmöglchkeiten vorliegen. Von diesen potentiellen Bildern und Räumen im Rechner können immer nur Ausschnitte oder filmische Abläufe präsentiert und betrachtet werden. Der Künstler legt dafür die Ausschnitte für die Bilder und bei Animationen auch die Kamerafahrt fest. Durch interaktive Computerkunstwerke bekommt der Betrachter die Möglichkeit, sich die Rechnerbildwelten selbstbestimmt zu erschließen. Er kann nun den Bildausschnitt und die Kamerafahrt steuern und damit die ganze formale Komplexität digitaler Kunst erfahren. Der aus anderen Medien gewohnte feststehende Bildausschnitt und die festgelegte Filmregie werden durch den Rechnereinsatz erweiterbar zu einem benutzergesteuerten multiperspektivischen Bildraum, bzw. zu einer nichtlinearen Bild- oder Filmgeschichte.

Die Künstler, die sich mit interaktiven computerunterstützten Installationen und Apparaten beschäftigen, können ihre im Rechner gestalteten und präsenten Bildwelten als Ganzes zur Betrachtung anbieten. Die Herstellung solcher interaktiven Environments konfrontiert die Künstler neben den üblichen bildnerischen und technischen Aufgaben mit bislang für sie eher nebensächlichen Problemstellungen. Die Vermittlungsaufgabe, die bislang weitgehend Kunstwissenschaftlern und Kunstpädagogen überlassen wurde, ist nun Bestandteil des Kunstwerks. Die Interaktion verlangt Überlegungen darüber, wie der Betrachter das Kunstwerk verstehen und den Rechner bedienen soll. (top)

Anknüpfungspunkte finden sich zum Beispiel bei Computer- und Lernspielen, bei Informationsterminals, Kassenautomaten, Spielhallenmaschinen und Simulatoren von Fahrzeugen aller Art. Diese Automaten folgen pragmatischen Zielen wie Schulung, Information, Legitimationszuweisung oder Unterhaltung, wodurch sie sich intentional von Kunst unterscheiden. Die technischen Lösungen für die Verbindung von Mensch und Maschine wie die Verwendung von Touchscreens, Tastaturen, Steuerknüppeln und die Benutzerführung bei Anwenderprogrammen und Unterhaltungssoftware können funktional als Vorbild auch für künstlerische Absichten angesehen werden. Außerdem steckt in diesen Apparaturen eine Menge methodisches Wissen, mit dem der Nutzer geführt wird. Stärkere methodische Beziehungen ergeben sich allerdings zu einer Kunstform, die Ende der siebziger Anfang der achtziger Jahre mit dem Ziel soziokultureller Animation entwickelt wurde (vgl.: Künstler & Kulturarbeit oder Kunstaktionen). Die Verknüpfung von verschiedenen Interaktionsmethoden und Kunst findet sich bei Mitmachaktionen und Kunstaktionen. Heute geht es zwar nicht mehr wie damals vordringlich um einen emanzipatorischen, rezipientenintegrierenden Kunstprozeß und die Verschmelzung von Kunst- und Lebenswelt, aber dennoch können die methodischen Prinzipien dieser aktionistischen Kunstformen für das Verständnis und die Weiterentwicklung interaktiver Computerkunst nützlich sein. Denn die wesentlichen Steuerungsmethoden in einer Kunstaktion sind mit denen eines interaktiven Environments verwandt.
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In einem interaktiven Environment sind immer die Elemente Animation, Information, Interaktion und Produktion verbunden. Um das Mitmachen überhaupt auszulösen, bedarf es in jedem Fall einer animativen Aktionskomponente. Hier gilt die aus der allgemeinen Pädagogik bekannte Faustformel: Entweder gelingt es, eine intrinsische Motivation beim Publikum anzusprechen, also direkt persönliches Interesse zu erregen, oder das Mitmachen muß extrinsisch mit einer Belohnung motiviert werden. Das künstlerisch-methodische Problem ist die Bestimmung der Handlungsmöglichkeiten des Nutzer und deren Einbindung in ein nachvollziehbares Handlungsziel. Der zu inszenierende, im folgenden als Handlungsrahmen bezeichnete Interaktionskontext des Rezipienten in der Kunstaktion kann sehr frei oder sehr stark determiniert arrangiert werden. Die Bandbreite der Publikumseinbindung reicht von simplen von jedermann ausführbaren Handlungen bis hin zur Inszenierung und Vermittlung neuer Repertoires für die Aktion selbst. Leichtverständliche, spontan nutzbare ästhetisch-praktische Handlungsangebote können während der Aktion zur gemeinsamen Gestaltung eines Objektes führen. Aber auch komplexe Inszenierungen mit unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten wurden für soche Aktionen entwickelt (vgl.: Gläsernes Atelier - Eulenspiegeleien).

Eine aus Mitmachaktionen ableitbare Relation lautet: Je mehr Selbstbestimmung und Eigenkreativität dem Mitakteur zugestanden wird, um so offener ist die Qualität des künstlerischen Produkts. So lassen es beispielsweise Aktionen, die auf spontanes, hedonistisch motiviertes Mitmachen abzielen, kaum zu, ein gleichbleibendes ästhetisches Niveau der einzelnen Beiträge zu erreichen. Wenn jeder mitproduzieren kann, ist das Ergebnis notwendigerweise sehr heterogen. Greifen die Aktionskünstler steuernd in diesen Prozeß ein, indem sie Strukturen vorbereiten oder direkt anleiten oder produzierend mitarbeiten, grenzen sie den Handlungsrahmen des Mitakteurs ein. Je determinierter der Handlungsrahmen wird, umso mehr nähert sich die Aktion strukturell einem Spiel an, in dem der Mitakteur durch Regeln angeleitet die Aktionsstruktur durchläuft. (top)

In interaktiven Kunstaktionen stellt sich also neben der Themenwahl immer die Frage, ob der Künstler sich auf die vorhandene, möglicherweise relativ niedrige künstlerische Kompetenz der Mitakteure einläßt, oder ob er durch die Vorgabe verbindlicher Handlungsregeln eine einheitliche Kompetenz aller Teilnehmer für eine tendenziell spielähnliche Aktion schafft und nutzt.

Der gravierende Unterschied zwischen einer Kunstaktion und einem automatischen Interaktionsenvironment ist, daß der Künstler in der Aktion als Performer und Animator direkt mit dem Publikum interagiert. Der menschlich gesteuerte Aktionsprozeß hat den Vorteil, daß die Künstler die Interaktion auch bei animatorischen und methodischen Fehleinschätzungen intuitiv und spontan nachbessern können. In interaktiven computerunterstützten Environments ersetzt ein Automat den menschlichen Animator und Koordinator. Deshalb muß die Interaktion methodisch genauer und widerspruchsfrei geplant werden, damit der Nutzer die Installation und Apparatur bedienen kann. Einige exemplarische praktische Beispiele interaktiver Computerkunst sollen im folgenden zeigen, welche methodisch-künstlerischen Vorgehensweisen bislang in der Computerkunst verfolgt werden.(top)

Arthur Schmidts „interaktives Bild- und Klangmedium“ (vgl.: Electronic Art Syndrom ’92). ist eine Installation. Ein Computer mit Touchscreen und einem parallelgeschalteten großen Präsentationsmonitor zeigt in Ruhestellung ein typisches informelles Bild von Schmidt, zu dem synthetische Musik erklingt. Der Rezipient hat die Möglichkeit, auf dem berührungssensiblen Monitor einen Bildteil anzuwählen, woraufhin ein neues Bildstück an dieser Stelle eingeblendet wird. Der Handlungsrahmen ist total determiniert, wenn der Bildschirm berührt wird, ändert sich an dieser Stelle das Bild. Es drängt sich ein Vergleich zu Kaleidoskopen und mechanischen Malmaschinen auf, die ebenfalls einfach zu benutzen sind und ein kaum vorhersehbares, aber immer ästhetisch interessantes Bildergebnis erzeugen. Die beim Rezipienten vorauszusetzende Kompetenz ist gering, denn der Nutzer kann das Ergebnis seiner Handlung ohnehin nicht antizipieren. Von solchen Apparaten geht ein hoher Benutzungsreiz aus. Die Neugier über den nächsten Bildzustand, aber auch das Angebot, ohne malerische Kompetenz mit einem Bild zu experimentieren, und dadurch das Gefühl zu haben, Bilder selbst zu erschaffen, wirken sehr animativ. Der Unterschied zwischen den Malmaschinen /Kaleidoskopen und Schmidts Kunstobjekt findet sich in der Bildqualität. Seine Bilder sind weder zufällig, noch lassen sie sich durch geometrische Regeln herleiten, vielmehr sind sie in jedem Zustand perfekte Malerei. Mit seiner interaktiven Installation eröffnet er die Möglichkeit, seine digitale Malerei als interaktiven dynamischen Prozeß zu erfahren und zu betrachten. Die Installation Schmidts stellt modellhaft die Erweiterung der Malerei und Bildrezeption durch Interaktion dar (vgl.: Struwe).(top)

Jeffrey Shaw präsentiert mit „The Iegible City“ ein sensorbestücktes Fahrrad, das zur Steuerung einer Videorückprojektion von Straßennamen einer Stadt genutzt werden kann (vgl. Prix Ars Electronica 1990). Es handelt sich um eine Fahrsimulation. Die Handlungsmöglichkeiten sind einfach zu durchschauen, weil sie auf gängiges Erfahrungswissen rekurrieren. Die Installation erlaubt, wie bei Schmidt, die Auseinandersetzung mit einem als Generierungsprogramm vorgegebenen ästhetischen Produkt. Allerdings prägt hier nicht das Bildsujet dreidimensionaler Straßennamen, sondern die interaktive Rezeptionsform selbst die ästhetische Qualität des Kunstwerks. Shaws Fahrradsimulator ist zwar, verglichen mit den Standards in Spielhallen oder realitätsnahen großen Bewegungssimulatoren, minimalistisch. Doch es geht eben nicht um Realitätssimulation, sondern um die Entwicklung von Rezeptionsformen für künstlerische digitale Bilder. Das zeigt eine andere Arbeit von Shaw noch deutlicher. Mit der Installation „The narrative Landscape“ (vgl.: Video-Skulptur) werden durch Interaktion Bildstrukturen sichtbar, die ein Ausschnitt aus einem viel größeren digitalen Bild sind. Die Eingriffe des Betrachters bestimmen, in welche Richtung der sichtbare Ausschnitt des vom Programm generierten Bildes verschoben werden soll. Erst die Interaktion macht diese Bilder in allen Dimensionen selbstbestimmt rezipierbar. (top)

Shaws und Schmidts Werkbeispiele haben Gemeinsamkeiten, sie rekurrieren auf einfache, voraussetzbare Kompetenzen des potentiellen Benutzers. Die Entscheidungsmöglichkeiten sind einfach zu erfassen, alles ist geregelt und man kann nichts verkehrt machen.

Einen anderen Weg geht Paul Sermon. Mit „Think about the people now“ setzt er sich thematisch mit dem Ereignis einer Selbstverbrennung auseinander (vgl.: Prix Ars Electronica 1991). Er nutzt dafür kein aufwendiges Environment, sondern begnügt sich mit den normalen Schnittstellen eines Computers. Sermon produzierte ein interaktives Comic, vergleichbar einem Adventuregame. Das Geschehen wird durch vom Programm angezeigte Optionen und vom Nutzer eingegebene Entscheidungen gesteuert. Dieser künstliche Erfahrungsraum ermöglicht den Nachvollzug verschiedener, untereinander kombinierbarer, individuell wählbarer Handlungsstränge. Trotz der Komplexität gibt es hierbei keine Handlungsmöglichkeit, die nicht vorher festgelegt worden wäre, es verbirgt sich also auch hinter dieser Arbeit ein geregelter, allerdings wesentlich weitläufigerer Handlungsrahmen als bei Schmidt oder Shaw. Sermon überträgt damit aus Computerspielen bekannte programmierte digitale nichtlineare Erzähl- und Spielstrukturen in die Kunst. (top)

Die hier unter dem Aspekt der Interaktionsmethoden vorgestellten Arbeiten stehen exemplarisch für die wesentlichen Strukturen interaktiver Computerkunst. Interaktive Bildgeschichten und multisensorische Interaktions-Bild-Ton-Räume zeigen Möglichkeiten auf, wie den menschlichen Sinnen die Dimensionen digitaler, immaterieller Informationen selbstbestimmbar zugänglich gemacht werden können.

Diese und andere Arbeiten des Genres weisen alle einen geschlossenen Handlungsrahmen auf, d.h. die Aktionen des Rezipienten sind exakt geregelt, und es kann nichts kann geschehen, was nicht vorher determiniert ist. Offene Aktionsformen, die produktive menschliche Handlungen von Künstlern und Rezipienten in einer Kunstaktion verbinden, sind offensichtlich noch zu komplex, um sie als Spielregeln für interaktive Computerkunst zu formulieren. Doch zeichnet sich mit „virtuell reality“ die Erweiterung dieser neuen Kunst- und Kunstrezeptionsform schon ab.

Gerd Struwe


Literaturangaben:
Gläsernes Atelier - Eulenspiegeleien. In: Jahrbuch für Ästhetische Erziehung 2. - Kultur auf der Kippe, Berlin 1985, 133ff.
Herzogenrath, Wulf und Edith Decker (Hrsg.): Video - Skulptur, Köln 1989, Abb.33.
Kunstaktionen (Hrsg.): Bundesverband Bildender Künstler, o.O., o.J.
Künstler & Kulturarbeit. (Hrsg.): HDK-Berlin, Berlin 1981
Katalog: Electronic Art Syndrom ’92, Berlin 1992, 56f.
Katalog: Prix Ars Electronica, Linz 1990, 188ff.
Katalog: Prix Ars Electronica, Linz 1991, 120ff.
Struwe, Gerd: Digitale Malerei. In: Arthur Schmidt Digitale Bilder/Interaktive Arbeiten, o.O. 1993, 36. (top)